Man liest es täglich in unzähligen Kommentaren, das Unverständnis der Anleger darüber, warum die Aktienmärkte nicht einbrechen, sind doch die Wirtschaftsaussichten der Unternehmen durch die Coronakrise so schlecht wie sie es eigentlich noch nie waren. Es gibt derzeit zwei dominante Faktoren, die für diese extraordinäre Situation verantwortlich sind und sie führen dazu, dass die Aktienkurse in ihrer Gesamtheit (derzeit) nicht ihrem wirtschaftlichen Umfeld entsprechen: Ein gleichbleibenden Angebot an Aktien bei überbordender Nachfrage infolge einer nahezu unerschöpflichen Liquidität.
Die Dauermanipulation der Anleihemärkte
Wer glaubt, dass die Aktienmärkte selbst durch die Notenbanken manipuliert werden, der irrt sich meines Erachtens: es sind vor allem die Anleihemärkte, die seit gut zehn Jahren von den Notenbanken dieser Welt in abnorme Kurshöhen und ebenso absurde Zinstiefs getrieben wurden.
Hierzu – bevor wir zur aktuellen Situation in der Coronakrise kommen – erst einmal eine grundlegende generationenübergreifende Überlegung: Das Volumen der Aktienmärkte und der Staatsanleihen dürfte derzeit nicht mehr allzuviel auseinander liegen. Der globale Aktienmarkt mit 75 Billionen Dollar (89 Bio.Dollar im Allzeithoch) und die Staatsanleihen mit 60 bis 70 Billionen – Tendenz steigend. Seit Generationen gibt es einen Zweikampf in der Geldanlage zwischen den (ehemals) risikolosen Staatsanleihen und den riskanteren Unternehmensbeteiligungen. Das Tragen von Risiko wird mit einer höheren Rendite belohnt, deshalb lag über die letzten 100 Jahre – es gibt wissenschaftliche Auswertungen bis 1903 – die Aktienrendite nach Inflation um ein bis zwei Prozent über der von Zinspapieren.
Wenn es so alle sechs bis zehn Jahre die typischen Übertreibungen an den Aktienmärkten gab, kam es zum Crash und die Anleger wichen in die verzinslichen Geldmärkte aus – bis sich das Kursniveau der Aktien wieder an die langjährige Durchschnittsgewinnerwartung angepasst hatte (Mean-Reversion-Effekt). Dies ist schon weit über 10 Mal passiert in den USA in dem besagten Jahrhundertzeitraum. Zuletzt hatte es auch noch funktioniert bei den Crashs der Jahre 2000 bis 2003 und 2008/2009. Der Anlagezins (auch Leitzins) lag zu diesen Zeiten immerhin noch bei 5 bis 6 Prozent. Der Finanzkrise hat aber etwas Grundlegendes verändert, man rettete das Bankensystem und die westlichen Notenbanken gerieten auf die Spur der Bank of Japan. Federal Reserve und EZB, aber auch SNB traten mit ihren Quantitative Easing-Programmen als Käufer auf den Anleihemärkten auf und verzerrten die Zinsen nach unten, bis in den kürzlich entstandenen Nullzinsbereich. Damit war der Anlagenotstand geboren und die Aktienhausse erlebte ihre längste Lebensdauer seit 100 Jahren.
Die Geburt von TINA
Klar hatten die Aktienrückkäufe der großen US-Unternehmen (4,3 Billionen Dollar allein beim S&P 500) in den Jahren 2010 bis 2019 maßgeblichen Einfluss auf die Aktienhausse von über 350 Prozent bis zum 20. Februar 2020. Nicht zu vergessen auch die Steuergeschenke von Donald Trump durch seine riesige Unternehmenssteuerreform. Aber die ständig fallenden Zinsen taten ihr Übriges, sie sorgten dafür, dass der immer kleiner werdende Kupon die Anleihemärkte immer uninteressanter für die (Langzeit)Investoren machte. Nur die Banken spekulierten weiter, denn durch die Duration warfen Langläufer ständig Kursgewinne ab, durch ständig fallende Zinsen. Doch bei null Prozent soll in den USA Schluss sein, damit sind diese Verdienstmöglichkeiten passé. TINA (There is no Alternative) wird immer dominanter. Woher soll sich das Anlagekapital (Pensionsfonds, Versicherungen, Kapitalsammelstellen) seine systemerhaltenden Renditen holen – auch und gerade in der Coronakrise – wenn die Zinsen verschwunden sind?
Dass die Versorgung mit billigem Geld der Triebfaktor Nummer eins an den Börsen war und ist, sah man im Jahr 2018. Fed-Chef Jerome Powell hatte die Zinsen im im Jahresverlauf vier mal angehoben und zugleich die Notenbankbilanz durch Verkäufe von Anleihen reduziert. Es kam im Spätherbst zu einem Aktienmarktcrash bis kurz an den Bärenmarkt (minus 19,7 Prozent), obwohl die US-Wirtschaft noch ganz gut lief (Jahresrate 2,93 Prozent) und von Wirtschaftseinbrüchen in heutiger Dimension nicht im Traum die Rede war.
Coronakrise: Die Totalentkoppelung von Börse und Wirtschaft
Nach dem ersten Coronaschock rauschten die US-Märkte im Februar/März um 35 Prozent, der DAX sogar um 40 Prozent in die Tiefe, bis die internationalen Notenbanken und die Regierungen in unglaublicher Einigkeit die Geld-Bazookas hervorholten und die Märkte mir Geld fluteten. Bürger mit Helikoptergeld, Unternehmen mit garantierten und billigen Krediten und einen Ankauf von Anleihen von der mit A-gerateten Staatsanleihe bis hin zur den früher nicht vorstellbaren Käufen von Junk Bonds. Und wohin fließt ein Teil des Geldes? You can make an educated guess!
Damit wird eine Nachfrage nach den Dividendenpapieren generiert, der in seiner Gesamtheit nicht mehr allzuviel mit den aktuellen wirtschaftlichen Aussichten der Unternehmen zu tun hat. Die Börse geht davon aus, dass es bis ins zweite Halbjahr wieder zu einer leichten Normalisierung der Wirtschaft in vielen Ländern der Welt kommen wird und zusätzlich sind ja noch die geschaffenen Billionen im Markt, die man nicht so ohne Weiteres wieder aus dem Geldkreislauf abziehen kann. Auch wenn dies dem ökonomischen Sachverstand zuwiderläuft, könnte es tatsächlich zu einer Aktienhausse inmitten einer aktuellen Rezession in der Coronakrise kommen, wie man sie in den letzten Jahrzehnten noch nie erlebt hat – der von Hannes Zipfel gestern angedeuteten Katastrophenhausse.
Hier eine Übersicht der aktuellen Notenbankenbilanzen (Quelle Bloomberg).
In Relation zu den Bruttoinlandsprodukt beträgt diese:
Schweizerische Nationalbank 122,62 Prozent
Bank von Japan 111,42 Prozent
Europäische Zentralbank 44,47 Prozent
US-Notenbank 30,25 Prozent
Bank von England 21,70 Prozent
Die Gesamtsumme dürfte die 20-Billionen-Dollarmarke schon überschritten haben, wobei die japanische und die schweizer Zentralbank schon Aktien in ihrer Bilanz haben, Federal Reserve und EZB bisher (noch) nicht. Wie soll hierbei ein marktgerechter Zinssatz zustande kommen?
Was könnte dieses Goldilocks-Szenario der Bullen zerstören?
Natürlich das Coronavirus, wenn er sich nicht tatsächlich in den nächsten Wochen und allenfalls Sommermonaten eindämmen lässt und die Coronakrise damit weiter andauert. Weil es dann zu solchen Verwerfungen in den Volkswirtschaften kommen wird, dass selbst das Gelddrucken der Notenbanken nicht mehr ausreichen würde. Wenn massenhaft Unternehmen pleite gehen, wie es in der Weltwirtschaftskrise 1929-1932 infolge einer Geldverknappung durch die Notenbank der Fall war, käme es zu dem L-Szenario, welches in eine wirtschaftliche Depression münden müsste. Bis es zur Entwicklung eines Impfstoffes kommt, an dem bereits deutlich über 100 Unternehmen und Forschungseinrichtungen arbeiten. Noch nie wurde ein Impfstoff oder ein Medikament von so vielen Menschen gleichzeitig benötigt, wie ein Mittel gegen Covid-19 bei einer Weltbevölkerung von 7,7 Milliarden Menschen und noch nie wurde gleichzeitig so intensiv und mit solcher Unterstützung daran geforscht.
Fazit: Rally und Coronakrise
Dieses Mal ist alles anders. Ein „naiver“ Spruch, den unentwegte Superoptimisten am Ende eines Aufschwungs regelmäßig von sich geben, um ihren eigenen Investitionen noch Sinn zu verleihen, aber in der aktuellen Baisse dürfte er doch seine Berechtigung haben. Wann hat es so etwas je gegeben, dass man wegen der Coronakrise mit Rezessionsszenarien durch IWF und andere Großorganisationen im zweistelligen Minusbereich rechnet und sogar für die stets wachsende Weltwirtschaft eine deutliche Schrumpfung voraussieht und dennoch steigende Kurse innerhalb von wenigen Wochen um 25 bis 30 Prozent aus der Tiefe erlebt? Wenn es nicht Millionen Aktienkäufer gibt, die mit hellseherischen Fähigkeiten für Monate in die Zukunft blicken können, so scheint die Flut billigen Geldes und der omnipräsente Anlagenotstand sein Spiel zu treiben.
Ja und was das viele Geld, respektive die hohe Schuldenlast anschließend für destruktive Folgen nach sich ziehen werden, darüber gibt es zwar schon die ersten akademischen Diskussionen – aber zuvor ist Feuerlöschen angesagt, skurrilerweise mit Papiergeld.
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